Ambivalenzerfahrungen fördern und behindern, sind also ihrerseits ambivalent.
Ambivalenzen in wissenssoziologisch-pragmatischer Sichtweise
Einen Schwerpunkt meiner Arbeiten bildet seit 2000 das Erkunden der praktischen, methodologischen und theoretischen Tragweite eines elaborierten Konzepts der Ambivalenz in verschiedenen Lebensbereichen und Disziplinen. Ausgangspunkt der Arbeiten war die Darstellung der Tragweite des Konzepts der Ambivalenz für das Verständnis der Beziehungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern als Alternative zur damals vorherrschenden Orientierung an der Idee der Generationensolidarität (5.51). Gestützt darauf ergab sich eine kritische Haltung gegenüber der damals dominanten Orientierung am Konzept der Solidarität, was rasch Aufmerksamkeit fand (4.60, 4.62, 5.58, 5.59).
Daran schlossen sich wissenssoziologische Analysen an, ausgehend von der Einführung des Begriffs 1910 durch den Psychiater Eugen Bleuler und der folgenden Rezeption in vielen Lebensfeldern und dementsprechend in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen. Ich schlage vor, aus diesen Entwicklungen ein differenziertes, elaboriertes Verständnis abzuleiten (5.88). Dafür erachte ich mittlerweile folgende Elemente als konstitutiv:
Ambivalenzen lassen sich verstehen als spezifische Modi menschlichen Erlebens und Erfahrens, also des Denkens, Fühlens, Wollens, Handelns und der Beziehungsgestaltung. Sie finden sich insbesondere in intimen Lebensformen, an Wendepunkten des Lebenslaufs sowie in allgemeinen Mustern des Handelns (4.84, 4.91, 4.92, 4.100). Beispiele sind die Mutterschaft, auch Scham, Geheimnisse oder traumatische Erlebnisse. Von Ambivalenzen ist auch in Bezug auf allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen und Umbrüche die Rede.
Ambivalenzerfahrungen beruhen strukturell darauf, dass gleichzeitig polare Gegensätze oder so empfundene Differenzen in den Beziehungen der Menschen untereinander sowie den Beziehungen zu sozialen, kulturellen und ökologischen Lebenswelten wahrgenommen und mehr oder weniger explizit zur Sprache gebracht werden.
Prozessual geschieht dies zeitweise oder dauernd in Bewegungen des Hin und Her, des Zögerns, des Zauderns, des Innehaltens, des Neuansetzens und des Zweifelns. Um diese komplexe Dynamik zu kennzeichnen, schlage ich den Begriff Vaszillieren vor, orientiert am Lateinischen „vacillare“ (4.100).
Menschen unterscheiden sich, je nachdem, wie sie dieses Erleben verarbeiten, in ihrer Sensibilität für Ambivalenzen, ebenso in der Fähigkeit, sie anderen mitzuteilen und sie bei anderen wahrzunehmen (4.99).
Ambivalenzsensibilität ist insbesondere von Belang in professionellen Beziehungen. Sie zeigt sich überdies im ästhetischen Handeln, d.h. darin, wie sich jemand schreibend, malend und musizierend und tanzend ausdrückt, ebenso, wie solche ästhetischen Handlungen sowie Werke interpretiert werden., beispielsweise des Dichters Robert Walser (4.96, 4.99) Ein besonders anschauliches Beispiel ist das freie musikalische Improvisieren (4.90).
Relevant sind Ambivalenzerfahrungen deshalb, weil sie Entwicklung und Entfaltung wichtiger Facetten der individuellen Identität, also des Selbst, ferner kollektiver Identitäten akzentuieren, m.a.W. bestätigen, bekräftigen oder infrage stellen. Der Rekurs auf Ambivalenzerfahrungen und der Umgang kann somit von Belang für die Zuschreibung von Merkmalen individueller und – im übertragenen Sinne – werkspezifischer Singularitäten sowie kollektiver Identitäten sein (4.100, 5.85, 5.86).
In der Praxis liegt es nahe, zwischen konstruktiven und destruktiven Ambivalenzerfahrungen zu unterscheiden, also solchen, welche für die Gestaltung der Beziehungen und die Artikulation von Identität förderlich sind, und solchen, die sich dafür als belastend und abträglich erweisen (5.88, Zf. 5.90).
Da Ambivalenzerfahrungen in verschiedenen Lebensfeldern beobachtet werden können, eignet sich ihre Analyse, um transdisziplinäre Vergleiche und Wissenstransfers anzuregen und zu bereichern (4.100). Dazu gehören auch Überlegungen in den Feldern von Kunst (Zf. 1.18, 4.37) und Musik (4.90) und Literatur (4.96, 4.99).
Im Umgang mit Ambivalenzerfahrungen lassen sich in der Praxis je nach Thema und Situation unterschiedliche Typen umschreiben (Zf. 1.14 5.68, 5.69, 5.80).
Ambivalenzen kann eine alternative Logik zugeschrieben werden (5.83), nämlich des «Sowohl als Auch» statt des «Entweder-Oder».
Wegen der Bedeutungsoffenheit des Konzepts können Analysen von Ambivalenzen ihrerseits Ambivalenzerfahrungen generieren.
Das Konzept eignet sich zum Brückenschlag zwischen mikro- und makrosoziologischen Perspektiven, dementsprechend auch für zeitdiagnostische Analysen (5.74).